Lebe unbegrenzt
Scroll
Manchmal verlor sie den Mut und die Kraft, sich aktiv um ihre Erkrankung zu kümmern. Aber jede Krise hat Michelle nur stärker gemacht.
Es gab immer wieder Lebensphasen, in denen Michelle es besonders schwierig fand, mit der Erkrankung zurechtzukommen. Da sie als Kleinkind nicht auf die damals bereits verfügbare medikamentöse Behandlung ansprach, musste sie strikt Diät halten. Allerdings war sie kaum zu überreden, die spezielle Aminosäuremischung einzunehmen. Funktioniert hat das nur, wenn diese mit Apfelsaft gemischt war. In den turbulenten Teenagerjahren wollte sie schließlich unbedingt zur Peergroup gehören und nicht weiter auffallen. Aber sie musste immer wieder erklären, warum sie ihr Essen abwog. Sie erklärte viele Male dass sie aus gesundheitlichen Gründen eine strenge Diät einhalten müsse – und dies nicht mache, um abzunehmen.
“Während der Pubertät wurde es für mich immer anstrengender die PKU im Griff zu behalten. Ich rebellierte mehr und mehr und irgendwann habe ich aufgegeben. Es gab Zeiten, da habe ich die Diät gar nicht mehr eingehalten. Dann gab’s zuhause Zoff. Im Nachhinein bin ich meinen Eltern echt dankbar für den Druck. Sie wollten immer nur das Beste für mich”. Michelle erklärt, dass diese Zeit auch Auswirkungen auf ihre Schwester hatte. “Im Nachhinein tut mir das sehr leid. Hätte ich die Chance, alles noch einmal zu machen, würde ich mich noch mehr anstrengen, die Diät einzuhalten. Es hätte meiner Familie viel Strapazen erspart.“ Als sie älter wurde, sah sich Michelle neuen Herausforderungen gegenüber: “Ich wurde bis zu meinem 18. Lebensjahr in der Kinderklinik behandelt. Dort erhielt ich ein Ernährungstraining und konnte zu einem Ernährungsberater gehen.
In unserer Nähe gab es keinen Facharzt für PKU. Eigentlich wurde ich beim Arzt nur geduldet, aber nicht wirklich ernst genommen.“ Noch heute empfindet es Michelle sehr schwer mit PKU zu leben. Die Diät einzuhalten kostet sie sehr viel Kraft und Überwindung. Aber auch sonst kann das Leben anstrengend sein. “Ich muss nicht nur doppelt so viel lernen, sondern dreimal so viel.“ Nur unter perfekten Bedingungen kann Michelle ihre PKU gut managen. „Wenn dann aber plötzlich das Leben zuschlägt, also neue Situationen entstehen und es turbulent zugeht, ist es unglaublich hart.”
Mit 25 Jahren hatte Michelle längere Zeit ihre Diät nicht eingehalten. Sie war frustriert und depressiv. Schließlich war sie aber an einem Punkt angekommen, an dem sie Ihre Diät und ihre Phe-Werte wieder in den Griff kriegen wollte. Allerdings stieß sie mit Ihrem Ansinnen zunächst auf Ablehnung. “Ich ging zu meinem Hausarzt, der mich seit meiner Kindheit kannte. Er hat mir jahrelang Kuren verschrieben. Diesmal hieß es jedoch, dass das nicht mehr ginge. Warum, hat er mir nicht erklärt. Ich hatte das Gefühl, dass er sie mir nicht verschreiben wollte. Ich war bei allen Hausärzten in der Umgebung, wurde aber immer wieder weggeschickt. Ich war verzweifelt und fühlte mich elend. Ich verstand es auch nicht. Alles was ich wollte, war meine PKU wieder in den Griff zu kriegen. Ich bat um Hilfe, bekam aber keine. Keiner fühlte sich für mich zuständig. Ich war enttäuscht und habe mich allein gefühlt. Ich dachte: Was kann ich für die Erkrankung? Ich habe nie darum gebeten, ich wollte sie nie. Und dann so alleine gelassen zu werden, das war sehr bitter.”
So wie Michelle geht es vielen Menschen mit PKU. Sie fallen aus der Gesundheitsversorgung heraus. Dabei empfehlen die europäischen medizinischen PKU-Leitlinien von 2017eine lebenslange und regelmäßige Behandlung der PKU. Die Versorgung und medizinische Begleitung sollte auch dann erfolgen, wenn Betroffene die Diät nur unzureichend einhalten oder sich sogar gegen eine Diät entschieden haben. Grund ist, dass die Phe-Spiegel in jeder Lebensphase im Auge behalten werden sollten, um eventuellen Langzeitfolgen rechtzeitig entgegenzuwirken zu können und die Betroffenen angemessen zu unterstützen.
Michelle wünscht sich, dass Ärzte künftig besser über PKU informiert werden und auch besser zusammenarbeiten, um Patienten wie ihr helfen zu können. Und die Patienten unterstützen, mit ihrer Erkrankung besser klar zu kommen. Zudem sollte mehr geforscht werden, damit Menschen mit PKU irgendwann einmal ‘normal’ essen können, ohne Probleme zu bekommen.
“Ich wünsche mir mehr Akzeptanz für Menschen mit PKU. Ich möchte keine Nummer sein. Wir sind Menschen, die das Leben lieben. Und wir sind es wert, dass man uns weiterhin hilft, und nicht abschiebt. Meine größte Angst für die Zukunft ist, dass ich mich verliere. Dass ich, weil ich meine Diät nicht eingehalten habe, nicht mehr ich selbst bin, mich nicht mehr im Griff habe. Und dass mein Gehirn nicht mehr so funktioniert wie jetzt.”
Job code: EU/PKU/0907 | Date of prep: July 2019